«Ich wünsche mir, dass die Frauen in Tansania ihren Wert erkennen»

Mary Kategile, aufgenommen in Basel 2018. Foto Miriam Glass

Mary Kategile, wie verlief Ihre Schulzeit?

Ich bin in Tansania in einem Dorf in armen Verhältnissen aufgewachsen. Damals gingen nicht viele Mädchen zur Schule, ich konnte aber die Primarschule im Dorf besuchen. Aber danach wechselte ich nicht in die Sekundarschule. Ganz einfach, weil ich ein Mädchen war. Die kulturellen und familiären Erwartungen an mich waren andere, ich sollte heiraten. Meine Familie war zu arm, um alle Kinder zur Schule zu schicken und so konzentrierte man sich da auf die Buben.

Sie haben heute einen Universitätsabschluss und sind dabei, Ihren Doktorgrad zu erwerben. Wie ging Ihre Bildungslaufbahn weiter?

Einige Jahre, nachdem ich mit der Primarschule fertig war, lief eine Kampagne der Regierung mit dem Ziel, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner Tansania lesen und schreiben lernen sollten. Ich wurde ausgewählt, um an diesem Programm mitzuwirken und wurde im Rahmen der Kampagne Lehrerin für Erwachsene. Zwei Jahre lang gaben wir Unterricht an verschiedenen Orten. Danach heiratete ich, da war ich 17. Und ich wurde Kindergarten-Lehrerin, dafür machte ich noch zweimal sechs Monate Ausbildung. Ich bekam Kinder, unterrichtete aber weiter, insgesamt sieben Jahre lang.

Noch immer ohne Sekundarschulbildung.

Ja, richtig. Diese Ausbildung holte ich nach, als schon alle meine sieben Kinder auf der Welt waren. Es gab Abendkurse. Das war nicht leicht, ich hatte ja schon so viele andere Aufgaben und trug die Verantwortung für vieles. Aber ich hatte bis dahin auch viel weiteres gelernt. Mein Mann, zunächst Ingenieur, liess sich zum Pfarrer ausbilden. Und ich studierte mit ihm, besuchte die Seminare als Gast. Später übernahm ich zahlreiche Aufgaben in der Frauenarbeit der Kirche, aber ich fühlte mich dafür nicht gut ausgerüstet. So entschied ich, die Schulbildung nachzuholen. Und als ich fertig war, bewarb ich mich für die Universität.

Und das klappte einfach so?

Ich bekam keine Unterstützung vom Staat, aber mein privates Umfeld unterstützte mich und ich machte meinen Bachelor. Dieser wurde anerkannt und ich blieb als Lehrerin am College. Später hatte ich dann die Chance, meinen Master in Theologie in den USA zu machen. Und jetzt bin ich an meiner Doktorarbeit.

Ist Ihre Biographie eine typisch tansanische Frauenbiographie?

Nicht wirklich. Es gibt wenige, die diesen Weg gehen. Ich muss sagen, es war nicht leicht und ich brauchte Gottes Hilfe. Er hat es möglich gemacht, dass ich die harte Arbeit leisten konnte. Und ich wurde auch manchmal von Freunden unterstützt.

Wie hat sich das Bildungssystem in Tansania seit Ihrer Schulzeit verändert?

In staatlichen Schulen müssen keine Schulgebühren mehr bezahlt werden. Trotzdem übersteigen die Kosten für die Schulmaterialien das Budget vieler armer Familien. Und leider hat die Qualität der Schulbildung abgenommen. Die Schulen sind überfüllt. In manchen Klassen sitzen 80 bis 100 Kinder mit einem Lehrer. Es werde nur wenige Lehrerinnen und Lehrer angestellt und die Ausbildung ist auch voller Herausforderungen. Es gibt auch grosse Qualitätsunterschiede zwischen Schulen in ländlichen und städtischen Gebieten, was das Lernen, die Unterrichtsmaterialien und die Verfügbarkeit von Informationen betrifft. Die Schulen in den Städten sind diesbezüglich besser ausgestattet als die auf dem Land.

Gemäss Statistiken gehen fast zwei Millionen Kinder in Tansania nicht zur Schule. Was sind die Gründe?

Zum Teil sind es finanzielle Gründe. Die Kinder verlieren das Interesse und die Geduld in der Schule, wenn sie sehen, dass sie bereits etwas verdienen könnten. Sie denken, sie verlieren in der Schule nur ihre Zeit. Das betrifft vor allem die Buben. Viele widmen sich lieber dem Geldverdienen als der Schule. Die Mädchen sind oft sehr in der Familie eingebunden und übernehmen dort zahlreiche Aufgaben. Und es gibt soziale und kulturelle Normen, die Schulbildung nicht als wichtigen Bestandteil im Leben von Mädchen und Frauen sehen. Es gibt noch immer Bevölkerungsgruppen die es vorziehen, Mädchen sehr jung zu verheiraten. Obwohl es hierzu inzwischen strenge Gesetze gibt.

Sie haben einmal gesagt, die Bildungspolitik in Tansania lege zwar fest, dass Knaben und Mädchen dasselbe Recht auf Bildung haben, dies werde aber nicht umgesetzt. Können Sie das ausführen?

Trotz der Anstrengungen der Regierung, Bildung für alle Mädchen und Knaben sicherzustellen, gibt es immer noch Eltern die den Stellenwert von Bildung für ihre Kinder nicht sehen. Es gilt als normal, dass Mädchen nur die Primarschule besuchen und keine höheren Schulstufen. Da geht es um die Kraft der kulturellen und sozialen Normen, die ich gerade erwähnt habe. Natürlich gibt es Familien, die ihre Töchter unterstützen und ihnen Bildung ermöglichen. Aber die Annahme, dass eine Frau in jedem Fall heiraten und Kinder haben sollte, ist sehr verankert. Dabei scheint Schulbildung eine Zeitverschwendung. Die Primarschule besuchen viele Mädchen, doch in der Sekundarschule nimmt ihre Zahl ab und an der Universität sind es noch weniger.

Etwa 30 Prozent der Mädchen besuchen die Sekundarschule, aber viele brechen sie ab. Gemäss Zahlen der Unesco haben im Jahr 2019 rund 600’000 Mädchen die Sekundarschule abgebrochen. Was sind die Gründe?

Die Zahl ist alarmierend. Der Hauptgrund für die Abbrüche sind Teenagerschwangerschaften. Natürlich gibt es weitere Gründe: wirtschaftliche Gründe, familiäre Konflikte oder Arbeit zu Hause, zum Beispiel das Versorgen jüngerer Geschwister. Aber ein grosses Problem sind die frühen Schwangerschaften, beziehungsweise der Umgang damit. Mädchen in Tansania ist es verboten, in der Schwangerschaft und nach der Geburt die Schule zu besuchen. Nur an Privatschulen ist das möglich, aber die kosten Gebühren.

Wie lässt sich die Situation verbessern?

Wir setzen uns für die Mädchen und Frauen ein. Wir lobbyieren bei weiblichen Parlamentsmitgliedern, damit sie eine Gesetzesänderung verlangen, so dass die jungen Frauen trotz Schwangerschaft weiter Zugang zu Bildung haben. Wir zeigen Mädchen die Möglichkeit, Internate zu besuchen und unterstützen sie dabei. Wir sorgen auch für Unterkünfte für Mädchen, wenn sie eine Schule besuchen, die weit entfernt von ihrem Wohnort liegt. Wichtig ist da unser Netzwerk von Partnern, zum Beispiel NGOs wie Mission 21, die helfen, diese Möglichkeiten zu finanzieren.

Sie setzen sich auf vielen Ebenen ein, um junge Frauen in Tansania zu stärken. Können Sie diese Arbeit konkreter beschreiben?

Wir informieren die Mädchen und jungen Frauen über ihre Möglichkeiten und unterstützen sie dabei, ihren Weg zu finden. Eine Schwangerschaft und ein Schulabbruch sind nicht das Ende, das müssen wir diesen Mädchen vermitteln. Es gibt zum Beispiel Berufsausbildungen, zu denen sie Zugang haben – unter anderem werden diese Ausbildungsgänge von Mission 21 unterstützt. Wir zeigen Alternativen und Optionen auf, damit die jungen Frauen ihr Leben in die Hand nehmen können.

Sie helfen also mit Ausbildungsmöglichkeiten?

Ja, wir vermitteln Ausbildungsplätze und im gemeinsamen Projekt von Mission 21 und der Moravian Church werden diese auch finanziell unterstützt, ebenso wie weitere Schulbildung für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Leider erreichen wir die schwangeren Schülerinnen manchmal nicht, weil sie gar nicht wagen, Angebote anzunehmen. Ganz wichtig sind daher auch die Sensibilisierung und Information. Wir sprechen in den Schulen direkt mit den Schülerinnen.

Gibt es Aufklärungsunterricht?

Es gibt Biologie-Unterricht und dort ist auch die Fortpflanzung ein Thema. Aber das kommt erst in der Sekundarschule dran, zu spät in dieser Situation. Wir versuchen politisch durchzusetzen, dass das Thema der Teenager-Schwangerschaften in den Lehrplan aufgenommen wird.

Wie steht es um den Zugang und die Information zu Verhütungsmöglichkeiten?

Das ist ein wichtiges Thema. Leider gibt es hier viel Widerstand aus religiösen Kreisen. Es herrscht die Meinung vor, dass Information zu Verhütung junge Frauen dazu anspornt, schon sehr jung sexuell aktiv zu werden.

Wie ist es für Sie, als Pfarrerin öffentlich über dieses Thema zu sprechen?

Es ist sehr schwierig. Ich kann informieren, wenn ich direkt mit jungen Frauen spreche, aber in einer öffentlichen Situation ist es sehr schwierig.

Welche Aussichten haben Frauen, die zur Universität gehen?

Sie haben gute Möglichkeiten. Sie sind informiert über die verschiedenen Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten. Aber auch hier sind Schwangerschaften oft der Grund für Studienabbrüche, mehr Frauen als Männer brechen das Studium ab. Auch hier führen wir Gespräche, um Studentinnen zu informieren und zu stärken.

Gibt es staatliche Aktivitäten, um jungen Frauen für die Ausbildung an der Universität zu ermöglichen?

Nein, das sind lauter private Initiativen oder Projekte von Nicht-Regierungs-Organisationen. Wir brauchen aber ein Bekenntnis der Behörden und der Führungspersonen in Religion und Politik, um die Bildung von Mädchen und Frauen zu fördern.

Tansania hat seit Kurzem eine Frau als Präsidentin. Sind Veränderungen sichtbar?

Ja. Sie setzt sich für Bildung und ein besseres Leben für Frauen und Mädchen ein. Das stimmt mich hoffnungsvoll.

Was sind Ihre Wünsche für Frauen und Mädchen in Tansania?

Ich wünsche mir, dass sie gestärkt und unterstützt werden. Dass sie ihren eigenen Wert erkennen und für sich einstehen können. Die meisten Frauen in Tansania denken, sie müssten für andere Menschen leben. Es ist in Ordnung, sich um andere zu kümmern, aber ich wünsche mir, dass diese Frauen und Mädchen sich auch um sich selbst kümmern. Sie leisten einen riesigen gesellschaftlichen Beitrag, sie tragen zur Wirtschaft und zum Frieden im Land bei. Sie sind wichtig! Ich wünsche mir, dass sie das erkennen.

Interview: Claudia Buess (Veranstaltungsmoderation), Miriam Glass (Bearbeitung)

► Video der Online-Veranstaltung „Dialog International“ mit Mary Kategile

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