Mission 21 lud am 19. und 20. September 2024 zum zweiten virtuellen Internationalen Forum für interreligiöse und transkulturelle Friedensförderung ein. Unter dem Thema «Versöhnung wagen?!» diskutierten Expert*innen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa, ob und wie Versöhnung in polarisierten Konfliktsituationen möglich ist.
Über 200 Fachpersonen und Interessierte aus aller Welt nahmen an Diskussionen und Referaten zu psychologischen, philosophischen und spirituellen Ansätzen in den Bereichen Versöhnung und Friedensförderung teil. Die drei Hauptreferent*innen boten einen differenzierten Einblick in das Thema der Versöhnung weltweit.
In seiner Eröffnungsrede am Donnerstag sprach Pater Michael Lapsley, Präsident des Healing of Memories Global Networks und Träger des Niwano-Friedenspreises 2021, über Versöhnung in Südafrika nach der Apartheit. Lapsley hob hervor, dass wahre Versöhnung nur durch die Heilung von Erinnerungen möglich ist. Es gehe dabei um eine Reise des Erkennens und Loslassens der Vergangenheit, was einem Entgiftungsprozess gleichkomme.
Prof. Oluwafunmilayo Para-Mallam, Vorsitzende des African Women’s Leadership Network und 2024 zu einer der 100 führenden Frauen in Nigeria ernannt, war ebenfalls Hauptreferentin. In ihrem Vortrag beleuchtete sie die zentrale Rolle von Gendergerechtigkeit und betonte, dass diese nur durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von Männern und Frauen erreicht werden könne.
Dr. Martin Sinaga, Theologe und nationaler Instruktor im Programm zur religiösen Moderation des indonesischen Ministeriums für religiöse Angelegenheiten, sprach über die Bedeutung von Religion für die Versöhnung in einer polarisierten Gesellschaft. Er unterstrich, dass interreligiöse Dialoge und gemeinschaftliche Rituale entscheidend sind, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen und ein harmonisches Zusammenleben zu fördern.
Neben den Hauptreferent*innen bereicherten sechs weitere internationale Redner*innen die Veranstaltung. Sie deckten ein breites Themenspektrum ab, von psychologischen Aspekten der Versöhnung über interkulturelle Kommunikation bis hin zu theologischen und sozialen Ansätzen. Ergänzend zu den Vorträgen boten virtuelle Diskussionsräume mit den Referent*innen Gelegenheit, sich über die Themen Friedensförderung und Versöhnung auszutauschen.
Interview mit Carmen de los Ríos
«Versöhnung wird fast immer als das Wiedervereinen verstanden. Es gab jedoch nie eine perfekte Gesellschaft»
Carmen de los Ríos hat uns im Vorfeld des Forums einige Fragen beantwortet. Die Peruanerin ist Gründerin und Direktorin der glaubensbasierten Menschenrechtsorganisation Loyola Centers in Ilo und Huamanga in Peru. In den letzten drei Jahren arbeitete sie zudem als Missionsdelegierte für das Sozialapostolat der Konferenz der Jesuitenprovinziale von Lateinamerika und der Karibik.
Mission 21: Das Thema des Friedensforums ist «Versöhnung wagen?!». Was bedeutet Versöhnung für Sie?
Carmen de los Ríos: In der heutigen Zeit, in der wir mit zunehmender Polarisierung, mit Populismus und der postfaktischen [= gefühlsmässig, unsachlich; Anm. d. Red.] Politik konfrontiert sind, die uns immer weiter entmenschlichen, ist es dringend notwendig, zur Versöhnung beizutragen. Versöhnung bedeutet: Brücken bauen, Räume für Dialog schaffen, Vielfalt akzeptieren und gemeinsam eine Zukunft als Menschheit gestalten.
Versöhnung wird fast immer als das Wiedervereinen von etwas Getrenntem verstanden, als ob es vorher Harmonie gegeben hätte. Tatsächlich gab es jedoch nie eine perfekte oder harmonische Gesellschaft, zu der wir zurückkehren könnten. Es ist stets eine Herausforderung, eine bessere Gesellschaft zu schaffen – heute mehr denn je.
Mission 21: Wo und warum braucht es in Peru Versöhnung?
Carmen de los Ríos: In Peru ist Versöhnung aufgrund der tiefen Spaltungen, in denen wir leben, unerlässlich. Weltliche Konflikte haben wir schon immer erlebt – aber noch stärker seit der sogenannten Unabhängigkeit und der Gründung der Republik – einer Republik, die nicht alle einschloss und die auf Ungerechtigkeit und Korruption gründete.
Die Polarisierung nimmt weiter zu. Die Corona-Pandemie und die letzten Wahlen – um nur zwei Beispiele zu nennen – haben unglaubliche Polarisierungen geweckt. Sie haben Spaltungen wie den Rassismus oder dauerhafte Ungleichheiten sichtbar gemacht, von denen wir dachten, sie wären überwunden. Das zeigte auch die letzte Umfrage zur Wahrnehmung von Ungleichheiten: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung empfinden das Einkommensgefälle zwischen Arm und Reich als zu gross; mehr als zwei Drittel der Befragten betrachten die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten als schwerwiegend und den Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Bildung und zur Arbeit als ungleich.
Die Zahlen zeigen, wie notwendig Versöhnung heute auf allen Ebenen ist: zwischenmenschlich, in der Gesellschaft, zwischen Stadt und Land, zwischen den Kulturen, mit den Opfern von Gewalt, zwischen Männern und Frauen, mit der LGBTQ+-Gemeinschaft und mit der Natur.
Die Referate des Forums wurden aufgezeichnet und sind nun zusammen mit Texten und Präsentationen im Dossier des Internationalen Forums verfügbar.
Text und Interview: Melissa Solothurnmann